DIE MACHT
DER
MANIPULATION
Andere zu manipulieren, gilt als
schändlich. Dabei liegt es in der
menschlichen Natur, andere von sich,
seinem Standpunkt oder seinen Produkten
zu überzeugen. Doch jedes mächtige Tool
kann zur Waffe zweckentfremdet werden.
Gerade die deutsche Geschichte beweist,
wie verheerend die Manipulation der
Massen ausfallen kann.
„Ich bin nicht zu manipulieren!“ Wer so selbstüberzeugt von sich denkt, ist bereits in die Falle getappt.
Denn darum geht es bei der Manipulation: ein Individuum oder eine Gruppe so zu beeinflussen, dass
Gefühle erregt, Denkmuster erzeugt und Handlungen ausgelöst werden, die ohne diese Einflussnahme erst gar nicht zustande gekommen wären.
Wer dann noch von sich denkt, nicht manipulierbar
zu sein, macht die Formel komplett. Streng genommen ist auch dieser Artikel eine Form externer Manipulation, die auf den Leser einwirkt, wenngleich
wenig subtil. Nur gilt zu unterscheiden, wann diese
Beeinflussung unter positiven oder negativen Gesichtspunkten erfolgt. Schließlich
will jeder im Alltag die eigene
Position vertreten und andere von ihr überzeugen, was ja
oft zum Vorteil aller gereichen
kann. Von Beginn an lernt der
Mensch, bei Mitmenschen
Sympathie zu erzeugen –
gleichzeitig wird er durch diese Mitmenschen beeinflusst.
Erziehung, Sozialisierung, Bildung, Politik, Medien und viele weitere Facetten
lenken Menschen, bewusst wie unbewusst, auf
bestimmte Bahnen. Vertreter des Determinismus
sind sogar davon überzeugt, dass der freie Wille nur
scheinbar existieren würde und in Wahrheit jegliches Handeln vorbestimmt sei, abhängig von der
Summe aller bisher erlangten Erfahrungen. Kurzum: Manipulation ist alltäglich. Die Menge hingegen
macht das Gift. Ein Blick in die dunklen Kapitel deutscher Vergangenheit beweist, warum der Manipulationsbegriff mit Argusaugen beobachtet wird.
Das Handbuch des Bösen
Machtergreifung, Gleichschaltung, Vernichtungskrieg: Wie konnte ein Volk derart manipuliert werden, dass es den Aufstieg des Dritten Reichs nicht
nur zuließ, sondern maßgeblich daran beteiligt
war? Den Grundstein legte Adolf Hitler bereits 1920,
DIE MACHT
DER
als die noch junge NSDAP die erste Ausgabe des
„Völkischen Beobachters“ drucken ließ und den
Nationalsozialisten ein öffentliches Forum bot. Sie
startete mit einer Auflage von 7.700 Exemplaren –
1944 waren es rund 1,7 Millionen. Weitere „Bestseller“ wie Hitlers „Mein Kampf“ bewiesen, dass bereits
viele Bürger der Weimarer Republik empfänglich
für nationalsozialistische Thesen waren. Und selbst
gemäßigtere Teile der Bevölkerung sahen in Hitler
einen charismatischen Macher, der einem kaputtgesparten, verbitterten deutschen Volk die Vision
eines wiedererstarkten Deutschlands verkündete.
Nachdem im Frühjahr 1933
seine Wahl zum Reichskanzler, die Reichstagsbrandverordnung und das Ermächtigungsgesetz nicht verhindert
worden waren, hielt seine
Nazidiktatur alle Hebel in der
Hand. Joseph Goebbels verstand es, als Hitlers rechte Hand die Propagandamaschine ins Rollen zu
bringen: Über Volksmärsche,
Volksempfänger und die
„Deutsche Wochenschau“ brachte er die Naziideologie zu den Massen. Dabei bediente er sich einer
sorgfältig abgewogenen Sprache, die das deutsche
Volk als klar über- und andere Völker als klar unterlegen herausstellte, sehr zum Nachteil von Juden,
Sinti und Roma. Die Jugend wurde von klein auf
indoktriniert in dem Versuch, eine fanatische Generation heranzuziehen. Wer nicht durch die Massendiktatur ausgegrenzt werden wollte, ordnete sich
unter. Oder zeigte sogar vorauseilenden Gehorsam:
ein besonders perfider Effekt effektiver Manipulation, der Individuen freiwillig im Sinne des Regimes
handeln lässt, um dem äußeren Druck von vornherein zu entgehen. Am Ende konnte der Rest der
Welt Hitlers Machtfantasien stoppen. Doch das nationalsozialistische Gedankengut hat überlebt und
zieht auch ein Jahrhundert später noch neue Rekruten in seinen Bann.
Wenn das
Wort tiefer
schneidet als
das Schwert
Der Staat hört mit
Während nach Kriegsende die Bevölkerung Westdeutschlands mit der Bundesrepublik Deutschland eine wiedererstarkte Demokratie erhielt,
verbrachte der Osten weitere vierzig Jahre unter
diktatorischen Fittichen. Dass die DDR-Obersten
dabei nicht der nationalsozialistischen, sondern
der marxistisch-leninistischen Leitlinie folgten, war
streng genommen nur eine Detailsache: Tatsächlich nahm sich die SED an bewährten Manipulationstaktiken der Sowjets und Nazis ein Beispiel und
perfektionierte sie über die Jahrzehnte. Offiziell gab
man den Schein einer echten Demokratie, doch
wusste so ziemlich jeder, dass
Gewaltenteilung und „freie“
Wahlen nur zur Schau standen, um die Systemdiktatur
zu legitimieren. Das zentrale
Gehirn der Massenmanipulation, die Stasi, bestand zum
Fall der DDR 1989 aus rund
91.000 hauptamtlichen und
annähernd 200.000 „IM“ (inoffiziellen Mitarbeitern), die
in jeden Bereich des Alltags
vordrangen. Wohnungen
wurden abgehört, Oppositionelle unterdrückt, der öffentliche Diskurs ferngesteuert. Niemand konnte
sich mehr sicher sein, frei seine kritische Meinung
äußern zu können, ohne Repressalien zu erfahren,
gar verhört oder darüber hinaus abgeführt zu werden. Und wie sollte man wirkliches Vertrauen in
Mitstreiter der eigenen Sache aufbauen? Es könnte ja jeder ein Spitzel der Staatsmacht sein. Doch
die sozialistische Glanzfassade bekam Risse: Viele
in der Bevölkerung konnten Fernsehsender aus
dem Westen empfangen, und auch über den begrenzten Waren- und Personenverkehr bekamen
die Ostdeutschen genug vom westdeutschen
Wohlstand mit. Je weiter die Zeit voranschritt, desto deutlicher wurde, wie sehr der Osten bereits abgehängt war. Dennoch hielt das kommunistische
Bollwerk der DDR bis zum bitteren Ende. Bis heute
scheint es wie ein Wunder, dass die friedliche Revolution es überwinden und eine kritische Masse
aufbauen konnte, um schlussendlich die Mauer zu
Fall zu bringen.
» IST MANIPULATION VON
GRUND AUF BÖSE UND
VERWERFLICH? «
Das Schweigen der Lämmer
Nun gelten die bösen Ideologien des 20. Jahrhunderts als besiegt, während die Menschheit Jahr
für Jahr mehr zu einem globalen Dorf zusammenwächst. Ende gut, alles gut? Nicht ganz: Ironischerweise ist es einfacher denn je geworden,
Massen zu manipulieren. Whataboutism, Fake
News und weitere Ablenkungstaktiken haben
die meisten öffentlichen Debatten gekapert. Die
Bequemlichkeit des Internets macht es denkbar
einfach, die eigenen wie auch immer gearteten
Ansichten zu verbreiten. Und mindestens ebenso bequem, die Informationsaufnahme über die
für den eigenen Geschmack zugeschnittenen
Echokammern filtern zu lassen. Dadurch wird
ein ernsthaft geführter Diskurs erschwert, das
eigene Weltbild verharrt unangetastet. Prof. Dr.
Rainer Mausfeld, emeritierter Professor für Allgemeine Psychologie an der Universität Kiel,
geht noch weiter. In seinen Werken, beispielsweise „Warum schweigen die Lämmer?“, sowie in
zahlreichen Vorträgen argumentiert er, dass der
Demokratiebegriff als Ganzes in den letzten Jahrzehnten beispiellos ausgehöhlt wurde. Politischökonomische Eliten säßen an den Schalthebeln
der Macht, um die wichtigen Entscheidungen
zu treffen – Wahlen hingegen hätten kaum noch
Einfluss auf ihren Einfluss. Eine Gesellschaft mündiger Bürger, wie sie einst Immanuel Kant visionierte, sei längst zu einer Schafsherde degradiert
worden, die schweigt, statt aufzuschreien, besänftigt durch apathischen Konsum. Entsprechend
macht Mausfeld auch an den Medien Kritik laut,
die meist im Sinne der großen Machtzentren berichten, nicht zuletzt dem der USA. Vom Generalvorwurf der „Lügenpresse“ sieht er jedoch ab:
Das eigentliche Problem sei eine Kombination
vieler subtiler Methoden, darunter die bewusste Informationsflut, die ständige Wiederholung
einer Botschaft oder das Erzeugen von Angst,
das rationales Denken blockiert. Auch sieht er im
aktuellen Sprachgebrauch ein herausragendes
Manipulationsinstrument, denn je nach Bedarf
könnte das Vokabular positiv oder negativ gemünzt werden. Beispielhaft würde, je nach Interessenlage, die Berichterstattung über Kriege
bereits vorweg gekennzeichnet durch die Unterteilung in gute („Rebellen“, „Freiheitskämpfer“)
und böse Parteien („Regimetruppen“, „Terroristen“).
Der Kampf um die Wahrheit
Doch was kann man laut Mausfeld einer neoliberalen Elitenherrschaft entgegenhalten, die sich
Angst und Macht als Herrschaftstechniken bedient? Der Psychologie-Professor findet darauf
keine einfache Antwort – sonst wäre man schließlich auch nicht in diese Situation hineingeraten. In
Wahrheit hätten sich Aufklärung und Gegenaufklärung schon seit Jahrhunderten bekämpft, um
die Deutungshoheit zu erlangen. Zum Glück habe
die Zeit der Aufklärung einen reichen Werkzeugkasten hinterlassen, dem man sich bedienen soll,
um ideologisches Denken zu hinterfragen – und
sich überhaupt bewusst zu werden, dass man sich
in einer Situation des Manipuliertwerdens befindet. Angesichts der durchdringenden Indoktrination und der Schürung von Ängsten müsse man
jedoch einen langen Atem beweisen. Und man
müsse die Hoffnung hegen, noch grundlegende
gesellschaftliche Änderungen herbeiführen zu
können, bevor neue Katastrophen heraufziehen,
seien sie militärischer, ökonomischer oder ökologischer Art.
Mit großer Macht kommt große Verantwortung
Was ist nun die Moral der Geschichte? Ist Manipulation von Grund auf böse und verwerflich? Hat
man sich als einflussreiche Person, als Unternehmer, als Verkäufer dafür zu schämen, andere zu
manipulieren, indem man sie von den eigenen
Ideen und Produkten überzeugt? Grundsätzlich:
Nein. Denn das Beeinflussen und Beeinflusstwerden liegt, wie eingangs beschrieben, in der
menschlichen Natur. Man begibt sich schließlich
auch nicht grundlos in ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis oder in die Hände eines Verkaufsberaters, um ausgenutzt zu werden, sondern um
daraus selbst einen Nutzen zu ziehen. Wer aus purer Angst heraus auf die Tools des Erfolgs verzichtet, während sich der Rest ihrer bedenkenlos bedient, stellt sich nur selbst ein Bein. Erst wenn das
Werkzeug zur Waffe zweckentfremdet wird, wird
es gefährlich. Das Perfide an der Manipulation
von Massen ist, dass Gruppendynamiken, subtile
Grenzüberschreitungen und weitere, komplexe
Dynamiken nur schwer erkannt oder vom Einzelnen effektiv übergangen werden können. Doch
im kleineren Rahmen sind die Prozesse, glücklicherweise, überschaubarer: Was will der Gegenüber eigentlich von mir und was ich von ihm? Und
ist es vertretbar, wie er mit mir umgeht und ich
mit ihm? Wer die Antwort auf diese Fragen kennt,
ist mit sich im Reinen oder zumindest um eine
Weisheit reicher. Wer die Antwort jedoch nicht
kennt oder sie nicht hören will, sollte sich einmal
selbst ins Gewissen reden.